64. Stiftungsfest vom 23. - 24. Juni 2018 in Herrenberg

Ein sehr schöner und inhaltlich detaillierter Bericht zur Stiftskirche
von Bbr. Günther Harsch, der leider nicht in der FBS-Zeitung gedruckt wurde.

Nach der Mitgliederversammlung und gutem Mittagessen im Hotel Hasen erwartete uns der Stadtführer Herr Gernot Heer klingend mit einer kleinen Glocke um 14.30 Uhr vor dem Hotel zur Führung in Stiftskirche („Glucke“) und Glockenmuseum. Nach den heißen Vortagen hatten wir Glück und mussten beim Aufstieg nicht zu sehr schwitzen. Vorbei an wunderschönen Fachwerkhäusern – Herrenberg hatte Glück und wurde im 2. Weltkrieg nicht zerstört – hatten wir die „Glucke“ bald erreicht. Eine rege Geschichte hat sie hinter sich.

Eine Marienkapelle war Vorgängerkirche. Um 1290 herum erfolgt der Neubau der heutigen Kirche mit Turmuntergeschoß, Langhausmauern, Chor und Nordsakristei. Nach einer zweiten Bauphase um 1300 wird in einer dritten Bauphase Ende des 15. Jahrhunderts das Bauwerk vollendet. Aus statischer Notwendigkeit wird sie zur dreischiffigen Hallenkirche. Der geologische Untergrund (Schilfsandstein) ist bis heute ein sehr kostenaufwendiges Problem des Bauwerks. Herzog Ulrich von Württemberg holt in dieser Zeit statt der weltlichen Chorherren die „Brüder vom gemeinsamen Leben“. Die Kirche erhält nun auch zwei achteckige Türme. Durch den Untergrund bedingt wurde die Baugeschichte zu einer (teuren) Sanierungsgeschichte bis in die heutige Zeit. So manche Änderungen hat die Kirche über sich ergehen lassen müssen und dadurch auch ihr Gesicht verändert. So wurden die beiden Fachwerk-Türme abgebrochen und durch die heutige Zwiebelkuppe ersetzt.
Die dreischiffige Hallenkirche ist sehr hell und enthält noch einige ursprüngliche Kostbarkeiten. Der Taufstein ist das älteste Kunstwerk von 1472. Interessant ist auch die Marienkanzel von Meister Hanselmann um 1502, eine der schönsten spätgotischen Kanzeln in Württemberg. Sie zeigt Maria mit Jesus im Strahlenkranz auf einer Mondsichel stehend. Rechts von ihr die Kirchenväter Hieronymus und Augustinus und links Gregor und Ambrosius. Die Figuren selbst sind offensichtlich nicht vom Meister selbst hergestellt, sondern von auswärts angeliefert worden. Das ist bei Hieronymus zu erkennen. Sein Löwe hat eine ganz geraden und keinen gewölbten Rücken – warum? Der angelieferte Hieronymus und sein Löwe waren etwas zu breit und passten so nicht ganz in den vorgegebenen Raum. Meister Hanselmann wollte aber sein Lesepult in der Nische nicht wegmeißeln, sondern lieber den Löwen „glätten“!
Interessant ist der Chor mit seinem Chorgestühl, in Auftrag gegeben von den Brüdern des gemeinsamen Lebens und von Heinrich Schickhardt dem Älteren 1517 geschaffen. Die heutige Aufstellung des Chorgestühls ist „falsch“ und entspricht nicht der ursprünglichen – sie wurde vertauscht. In der Reformationszeit wurden die Altäre und das Chorgestühl ausgebaut. Während des Interims 1549 geändert, wieder aufgebaut und 1890 nochmals verändert. So beginnt jetzt der Zyklus hinten links (statt vorne rechts) mit dem Credo von Christus aus Johannes 15,16 (Nicht ihr habt mich erwählt..). Es ändert aber nichts an der Schönheit der Schnitzkunst.
Auch die Neubemalung des mehrflügeligen Hochaltars durch Jerg (Jörg) Rathgeb wurde 1521 von den Brüdern des gemeinsamen Lebens in Auftrag gegeben. In Herrenberg war der Altar nur relativ kurz zu sehen. Nachdem 1534 die Reformation in der Stadt eingeführt wurde, ließ ihn der erste lutherische Pfarrer in Herrenberg 1537 abbauen. 1548, zur Zeit des Interims, ließen spanische Truppen den Altar wieder aufbauen. Nach 1552 wurde er für einige Jahrhunderte einfach zugehängt. 1890 verkaufte der Oberkirchenrat den Altar dann wegen teilweise unschönen („erotischen“ nach unserem Kirchenführer Gernot Heer) Bildern an die „Staatssammlung vaterländischer Altertümer“ in Stuttgart. Die erhaltenen Teile können in der Staatsgalerie Stuttgart besichtigt werden. Karin wollte noch wissen, wie wohl erotische Bilder auf einem Hochaltar aussehen. Herr Heer vertröstete sie auf die 1:5-Kopie der Altarbilder an der Südwand im Kirchenraum. Vorher richteten wir noch einen Blick auf die Chorfenster und auf die zwölfzackige Rosette in der Turmempore an der Westwand, auch 1982 neugestaltet. Die Turmempore steht inzwischen auf einer massiven Stahlbetonplatte, die dem Turm neuen Halt gibt.
Nun ging es an die Kopie des Altars an der Südseite. Karin erhielt die Antwort auf ihre Frage auf dem Altarbild des letzten Abendmahls. Das Abendmahl ist vielleicht zu sehr als Völlerei dargestellt, aber vor allem die Darstellung des Judas war wohl der Anlass für den Verkauf. Judas ist als rothaariger Satan dargestellt und unter seinem Gewand ist ein erigierter Penis zu sehen!!

Wir verließen die Hallenkirche und bestaunten die teilweise doch ziemlich schräg stehenden Säulen. Ein Teil sparte sich den Besuch des Glocckenmuseums. Die noch nicht genug hatten, stiegen nun die insgesamt 146 Stufen bis zum 1990 eröffneten Glockenmuseum im Turm hinauf. Nicht nur die vielen Glocken unterschiedlicher Größe und Klänge, sondern auch der Blick auf Herrenberg und das Gäu und bis zur Alb entschädigte uns. Das Museum enthält heute 36 läutbare Bronzeglocken unterschiedlicher Größe und ein 50-stimmiges Carillon. Das Glockenensemble ist der Herrenberger Läuteordnung unterworfen, die festlegt, wie und wann und in welcher Zusammensetzung geläutet wird. Dies richtet sich nach dem Anlass, wie Morgen-, Mittag- oder Abendläuten, 11-, 15- und 21-Uhrläuten und entsprechenden gottesdienstlichen Anlässen. Jede Viertelstunde ist der „Her-renberger Uhrenschlag“ zu hören – ding-deng-dong und zurück - nach Herrn Heer der Herrenberger Big Ben. Alle Glocken tragen einen Namen, wie Gloriosa, Guldenglocke, Dominika, Armsünderglocke, Reformationsglocke, Taufglocke, Mittagsglocke, Betglocke usw.
Seit 2012 gibt es ein 50-stimmiges Carillon, das gesponsert wurde von der An-ton- und Petra-Ehrmann-Stiftung (Joghurt!), die einen Großteil der Kosten von 150 000 € übernahm. Den täglichen Läutezeichen wird vom Carillon eine passende Choralmelodie vorangesetzt, so z.B. vor dem Morgenläuten der Choral „Christ ist erstanden“. Jeden 1. Samstag im Monat finden zwischen 17.00 und 18.10 Uhr Glockenkonzerte statt, die mit dem Einläuten des Sonntags um 18.00 Uhr enden.

Nach einem Rundgang um den Turm und dem Genuss der herrlichen Ausblicke ging es wieder hinunter und am Marktplatz trafen wir die vorher schon Ent-schwundenen bei Eis, Kaffee und Kuchen, was wir uns erst recht verdient hatten!

Zurück im Hotel Hasen war es schon wieder Zeit, um sich für den Sektempfang im Freien und das festliche Abendmenu zu richten und den Abend bei intensiven Gesprächen zu genießen ... und ab und zu mit einem Blick auf das Handy die Fussball-WM 2018 zu verfolgen.